Die AKP regiert die Türkei seit 2002. In den hier vorzustellenden drei Veröffentlichungen von Bassam Tibi wird die Auffassung vertreten, dass die Türkei zwischen dem Putschversuch im Juli 2016 und dem sogenannten Verfassungsreferendum im April 2017 einen substanziellen Wandel durchlaufen hat. Deutsche und andere EU-Politiker scheinen diese Entwicklung nicht zu begreifen, behauptet Tibi. Auch verstehen sie nicht, dass die in der Türkei regierende AKP nicht mehr unter der Maske der „islamisch-konservativen Partei“ laviert, sondern sich klar und offen in Richtung der Herrschaftsform der Islamokratie entwickelt. Es ist richtig, dass die Türkei unendlich wichtig ist für Europa, doch müssen Europäer lernen, zwischen der Relevanz der Türkei als weltpolitischem Akteur und der Zuverlässigkeit der Türkei als verbündeter NATO-Partner und Kandidat für die EU-Mitgliedschaft zu unterscheiden.
Bassam Tibi schreibt die hier vorliegenden Beiträge als Türkei-Experte, der im Zeitraum 1990-2005 regelmäßig in der Türkei gelebt und geforscht hat, Vorlesungen an allen großen türkischen Universitäten hielt und zwei Gastprofessuren an der reputierlichen Bilkent-Universität in Ankara innehatte (1995 und 1998). Zu den Schwerpunkten von Bassam Tibi über die Türkei gehört die Erforschung des Politischen Islam (zwischen 1970-2001 gab es fünf islamistische Parteigründungen). In folgenden drei Veröffentlichungen von 2017 hat Tibi seine Beobachtungen der angesprochenen Entwicklung zusammengefasst.
In diesem Artikel wird gezeigt wie der türkische Präsident und AKP-Politiker Erdogan parallel zu seinem Kulturkampf für das fälschlich als Verfassungsreferendum verschleierte Ermächtigungsgesetz noch eine Mobilisierung der Türken-Diaspora als fünfte Kolonne vorantrieb. Hierbei wird der Putschversuch von Mitte Juli 2016 als Vorwand für die Säuberung des Staatsapparates (Justiz, Militär und Bildungssektor) von Kemalisten genutzt. Der Kampf gegen den Kemalismus für eine Entsäkularisierung der Türkei wird als eine Abrechnung mit den „Gülen-Putschisten“ verkauft. In diesem Artikel wird das Tabu Integration gebrochen und anhand des Verhaltens der türkischen Europa-Diaspora gezeigt, dass die Integration gescheitert ist. Erdogan betreibt zweierlei: Türken in Westeuropa für seine islamistische Politik zu mobilisieren und er will als Sprecher der Muslime aufzutreten. Am Ende des Artikels wird die Frage diskutiert, wie ein Land, das von der islamistischen AKP regiert wird, Mitglied der EU werden kann.
Ausgangspunkt des Interviews sind die Beschimpfungen der Deutschen und Europäer als Nazis und Kreuzzügler durch den türkischen Präsidenten Erdogan. Im großen einseitigen Interview warnt Tibi davor, Erdogan als einen Verrückten wahrzuzunehmen und hierbei seine Sprüche herunterzuspielen. Tibi behauptet, dass es um kalkulierte geht. Auch macht Tibi deutlich, dass es falsch sei, die AKP als islamisch-konservativ, wie die CDU christlich-konservativ ist, darzustellen. In Wirklichkeit sei die AKP fundamentalistisch-islamistisch. Tibi versucht im Interview, die Angst vor Erdogans Politik zu relativieren, weil dieser seine Grenzen habe. Wichtig sind zwei Erkenntnisse: erstens, die Türkei sei kein Verbündeter mehr und zweitens, die Integration der Türken in Westeuropa sei mehrheitlich gescheitert.
Dieser Text, der auf der Webseite des Bayernkuriers nachzulesen ist, ist nach dem Referendum ist der Türkei entstanden und befasst sich mit der in diesem Kontext beschriebenen Entmachtung der säkular-kemalistischen Elite durch massenhafte Säuberungen in Justiz, Streitkräfte, Bildungssektor und Journalismus zugunsten einer Islamokratie. Tibi weist Erdogans, auch von der deutschen Presse übernommene, Propaganda, bei dem Ganzen handele es sich um eine Politik gegen die Gülen-Bewegung, zurück.
Keine einzige deutsche Zeitung hat erwogen, darüber zu schreiben, dass das Verfassungsreferendum im Ausnahmezustand stattfand und somit freie Hand für Fälschung bot. Es geht nicht um eine Neutralisierung der Gülen-Bewegung, sondern um eine schleichende Scharia-Islamisierung der Türkei und Etablierung einer Herrschaftsform der Islamokratie. In diesem Artikel widerspricht Tibi heftig den Simplifizierungen der deutschen Presse, die die AKP-Politik als autokratischen Ausdruck einer Einmann-Diktatur verniedlicht. Dagegen argumentiert Tibi, dass in der Türkei ein neues politisches Herrschaftssystem unter der AKP entstanden ist, das institutionell auf folgenden vier Säulen fußt: 1. Islamismus und politische Moschee-Kultur, verwaltet von der Diyanet-Behörde, 2. Klientelwirtschaft und Patronage, 3. Geheimdienste und Polizei, 4. Familienklientelismus in Wirtschaft und Politik.